„Kann es sein, dass es sich viele in der Krisenerzählung mittlerweile ganz gut eingerichtet haben?“ fragte unlängst die Kolumnistin Jagoda Marinić in der Süddeutschen Zeitung. Ja, wir mussten uns emotional ein dickes Fell zulegen, so, wie wir seit Jahren von einer großen, nahezu unlösbaren Krise in die nächste schlitterten – Syrienkrieg und Flüchtlingskrise, Rechtspopulismus, Klimakatastrophe, Corona-Krise, Pflegenotstand, russischer Angriffskrieg mitten in Europa, Rohstoffkrise und Hungerkatastrophen, brutale Unterdrückung von Frauen und Mädchen im Iran und in Afghanistan, wieder Klimakrise … Die Bilder des Leids und die apokalyptischen Szenarien scheinen kein Ende zu nehmen. „Bei wenigen, wie etwa bei den Aktivisten der letzten Generation, schlägt die Angst in Aggression um. Die Mehrheit stumpft angesichts der Dauerstimulation der Angstreflexe ab.“ konstatiert Marinić. Wir richten uns ein in der aktuellen oder drohenden Katastrophe und in der Hoffnung, dass das Leid der anderen uns selbst nicht erreichen wird.

Menschlich ist das überaus verständlich. Wir können nicht permanent in Angst leben, können uns nicht permanent die vielen furchtbaren Schicksale zu eigen machen, von denen wir hören und lesen. Das würden wir psychisch aller Wahrscheinlichkeit nicht durchhalten.Wir haben ein Recht darauf, unser eigenes Leben zu leben und uns daran zu freuen.

Und doch feiern wir in diesen Tagen einen, der genau das getan hat: der sich die vielen furchtbaren Schicksale der Menschen zu eigen gemacht hat. Der sich berühren ließ von der Armut, der Krankheit, der Not der Menschen – im übertragenen wie im wörtlichen Sinn. Er beweinte den Tod seines Freundes Lazarus, er ließ zu, dass ihn die blutflüssige Frau in der Menge heimlich anfasste und so geheilt wurde. Er selbst berührte Menschen, um sie zu heilen: Aussätzige, Blinde, Zöllner, Lahme, Prostituierte, Menschen in den Abgründen der Gesellschaft seiner Zeit, die niemand sehen wollte, die als unberührbar galten.

Am Ende ließ er zu, selbst auf die grausamste Weise berührt zu werden: in der Folter und in der Kreuzigung.

Der verrückte Glaube, den uns seine Jünger*innen und die Christ*innen der letzten beiden Jahrtausende überliefert haben, besagt: Er ist nicht für sich gestorben. Er, der Ewige und Unantastbare, der Sohn Gottes, hat sich aus Liebe gemein gemacht mit uns, sich von unserem Leiden und unserem Sterben so sehr berühren und anstecken lassen, dass er es getragen hat bis zum Schluss.

Und die verrückte Hoffnung, die wir haben, lautet: Das Leben hat gesiegt. Er wurde seinerseits berührt vom Ewigen und auferweckt zu einem neuen Leben in Fülle – in das auch wir gerufen sind, gemeinsam mit ihm. Das feiern wir an Ostern.

Die Bibel erzählt, dass der Auferstandene den zweifelnden Apostel Thomas einlud, seine Wunden zu berühren: „Streck deinen Finger hierher aus und sieh meine Hände! Streck deine Hand aus und leg sie in meine Seite!“ (Joh 20,27)

Das wünsche ich Euch, Ihnen und uns allen an diesem Osterfest: Dass wir den Auferstandenen spüren und berühren dürfen. Dass ER uns Mut macht, selbst berührbar zu bleiben, uns anrühren zu lassen von den Menschen, in denen wir letztlich IHM begegnen. Dass ER uns die Hoffnung gibt, dem Leben zu trauen – auch über die Abgründe von Trauer und Schmerz hinweg. Dass ER unser Leben verwandelt im Licht der Auferstehung.

Frohe Ostern!

Eure Hochschulseelsorgerin Barbara Göb

Fotos: 1. Klaus Friese, CC BY-SA 2.0 <https://creativecommons.org/licenses/by-sa/2.0>, via Wikimedia Commons; 2. Zweifelnder Thomas, unbekannter Autor, ca. 1190-1200