Welch eine Euphorie – damals, vor 30 Jahren.

Damals, als die Trabis über die Grenze rollten und von begeisterten “Wessis” mit Blumen geschmückt wurden. Als die Sonderzüge mit erschöpften, aber glücklichen “Republikflüchtlingen” aus der Prager Botschaft durch Oberfranken rollten und an allen Bahnhöfen von jubelnden Menschen begrüßt wurden …

Als eine Diktatur, die gerade noch ihr 40-jähriges Bestehen mit Paraden von Schulkindern im Stechschritt gefeiert hatte, wie ein Kartenhaus in sich zusammenfiel und ihre “starken Führer” sich als kleingeistige, ängstliche Bürokraten entpuppten, die von der Lawine des freudentaumelnden und freiheitstrunkenen Volkes einfach überrollt wurden. Als das Wunder geschah: die russischen Panzer zogen sich zurück, die Volkspolizei blieb in den Kasernen, kein Schuss fiel.

Als das alles geschah: “Da waren wir wie Träumende.  Da füllte sich unser Mund mit Lachen und unsere Zunge mit Jubel.” (Psalm 126,1b.2)

Ein ganzes Land war damals glücklich. Spontane Freundschaften wurden geschlossen, wildfremde Familien kamen sich besuchen. Die Einwohner der damals gerade noch existierenden DDR (oder auch GDR, “Gradually Disappearing Republic”) hatten einen unglaublichen Sieg errungen: Mit Gottesdiensten und Montagsdemonstrationen hatten sie sich die Freiheit erkämpft, ohne Gewalt anzuwenden, gegen einen an die Zähne bewaffneten Polizeistaat mit totaler (Stasi-)Überwachung. “Wir waren auf alles vorbereitet”, soll ein SED-Funktionär damals gesagt haben, “nur nicht auf Kerzen und Gebete”.

Wunderbar. Doch der Mensch wäre nicht der Mensch, das Paradies wäre nicht das Paradies, wäre nicht sofort auch die Schlange zur Stelle. Schon bald regte sich das Dunkle: Neid, Habgier und Kleingeist. Es wurde gespottet über die Neuankömmlinge, die damals 100 D-Mark Begrüßungsgeld bekamen und damit erst einmal die Bananenregale leerkauften, nachdem sie exotisches Obst lange vermisst hatten. Im Westen herrschte Goldgräberstimmung, man kaufte Ostbetriebe fast umsonst auf, verkaufte umgekehrt völlig überteuerte West-Gebrauchtwagen an die “Ossis”. Der Wissens- und Effizienzvorsprung des Westens wurde gnadenlos ausgenutzt, Ostdeutsche wurden schnell zur “armen Verwandtschaft”. Die Gräben vertieften sich.

Und so verwundert es nicht, dass heute, nach 30 Jahren, nur sehr wenig geblieben ist von der Euphorie des “Wir sind ein Volk”. Denn auf das Fest und den Jubel folgte die ernüchternde Erkenntnis: Wir sind ein Volk von Egoisten. Auf den Jubel des Aufbruchs aus Ägypten folgte die Wüstenwanderung, die Ernüchterung, die Enttäuschung, die Sehnsucht nach den “Fleischtöpfen” der Sklaverei.

So etwas kennen wir auch in unserem Leben: Es gibt Zeiten des Jubels, Zeiten des Glücks – aber noch mitten im Glück wissen wir meistens schon, dass es vorübergehen wird. Euphorie ist nicht von Dauer. Erst nach langer Wüstenwanderung kommen wir – mit Gottes Hilfe – ins gelobte Land. Dazu braucht es Mut, Durchhaltevermögen, Erfindungsreichtum, Gemeinschaftsgefühl, Zuversicht.

Vor zwei Tagen haben wir 30 Jahre Fall der Berliner Mauer gefeiert. Noch sind keine 40 Jahre verstrichen, wie damals beim Zug der Israeliten durch die Wüste. Noch gilt es, durchzuhalten auf dem Weg zur Einheit – auch wenn es immer noch schwierig erscheint, gerade in der jüngsten Zeit.

Erinnern wir uns, wie es anfing. Menschen kletterten über die Mauer am Brandenburger Tor. Menschen lagen sich in den Armen. Menschen tanzten auf der Straße. Ost oder West, das machte damals keinen Unterschied.

“Mit meinem Gott überspringe ich Mauern.” (2 Samuel 22,30)

Ich glaube daran. Jetzt erst recht.

Eure/ Ihre Hochschulseelsorgerin

Barbara Göb