Im September 2023 trafen sich die deutschen Hochschulseelsorger*innen zu ihrer jährlichen Herbsttagung unter dem Thema „Missbrauch #Macht Gebrauch“ (nähere Infos zur Tagung hier). Dabei ging es vor allem um spirituellen Missbrauch, durch den Menschen manipuliert und ihrer spirituellen Selbstbestimmung beraubt werden.

Wer – sei es mit Verweis auf das katholische Lehramt oder auf eine evangelikale Bibelauslegung – behauptet, den Willen Gottes genau zu kennen und damit andere Menschen seinem/ ihrem Willen unterwirft, begeht damit nicht nur Gotteslästerung, sondern verletzt auch andere Menschen massiv und oftmals unumkehrbar in ihrer Gottesbeziehung und in ihrer Würde als Person. Diese spirituelle Entmündigung, die besonders in den radikal konservativen Gruppierungen der beiden großen Kirchen (katholische “Neue Geistliche Gemeinschaften”/ evangelikale Freikirchen) beobachtet werden kann, legt oftmals die Grundlagen für andere Formen des Missbrauchs, z. B. für sexuellen Missbrauch oder politischen Extremismus.

Schon im Jahr 2014 haben die bayerischen Hochschulseelsorger*innen ein Grundlagenpapier verabschiedet, das Leitlinien unserer Arbeit in den Katholischen Hochschulgemeinden festlegt. Freiheit und Respekt vor der Person, insbesondere vor ihrer spirituellen und sexuellen Selbstbestimmung, sind zentrale Motive. Den theologischen Teil dieser Leitlinien veröffentlichen wir hier – zur Beachtung für alle, die sich bei uns in der KHG Bayreuth engagieren. Unsere Hochschulgemeinde soll ein “Safe Space” sein, in dem alle Menschen willkommen und vor spirituellem wie sexuellem Missbrauch geschützt sind.

Für Freiheit und Respekt
Die bayerischen katholischen Hochschulseelsorger(innen) über die Grundlage ihres Handelns (Auszug)

(verabschiedet für die Konferenz der Bayerischen Hochschulpastoral, Bamberg, April 2014)

TEIL 1:
Ein Plädoyer

1 Einführung

Die bekannt gewordenen zahlreichen Fälle von Missbrauch und sexualisierter Gewalt haben die deutsche
katholische Kirche in eine tiefe Krise gebracht. Das Vertrauen vieler Menschen in die Kirche und in die sie
repräsentierenden Personen wurde zutiefst erschüttert. Der Jesuit Klaus Mertes spricht von einem
„katholischen Geschmack“ des Missbrauchs und stellt dadurch die Frage nach Ursachen, die nicht nur
gesamtgesellschaftlicher Natur sind, sondern darüber hinaus auch spezifisch mit kirchlichen Strukturen
zusammen hängen.¹

In den Hochschulgemeinden gab es nach derzeitigem Kenntnisstand keine Missbrauchsfälle. Gleichwohl ist
gerade der Hinweis auf den „katholischen Geschmack“ Anlass, das seelsorgerliche Handeln und die
seelsorgerlichen Beziehungen auch für das Feld der Hochschulpastoral grundsätzlich und kritisch zu
überdenken und neu zu beschreiben.

2 Haltung statt Handlungsvorschriften

Viele Seelsorgerinnen und Seelsorger sind verunsichert, wie sie sich in der Gestaltung ihrer professionellen
Beziehungen verhalten sollen, um keine Zweideutigkeiten entstehen zu lassen. Hier ist es naheliegend,
unerlaubtes Verhalten gleichsam in einem Katalog zu definieren. Die Verlockung dazu ist groß und auch
verständlich, würden solche Handlungsvorschriften für seelsorgerliche Begegnungen doch scheinbar Sicherheit
für alle Beteiligten bieten. Zugleich ist jedoch allzu offensichtlich, dass ein solcher Katalog allein niemals der
Vielfältigkeit von Menschen und Situationen gerecht werden kann und einem Rückfall in eine unangemessene
Kasuistik gleichkäme.

Daher plädieren wir ausdrücklich dafür, auf der Ebene eines Verhaltenskataloges nicht stehen zu bleiben; damit
Begegnungen in der Seelsorge wirklich heilsam für die Menschen sein können, braucht es eine bestimmte und
klar benannte professionelle Haltung in der Gestaltung seelsorglicher Beziehungen. Sie soll mit dem
vorliegenden Papier beschrieben werden; gleichzeitig werben wir dafür, das eigene Verhalten an der
beschriebenen Grundhaltung zu messen und diese immer wieder reflektierend einzuüben und einzuhalten.
Der Schlüsselbegriff für die beschriebene seelsorgerliche Grundhaltung ist die Freiheit des Einzelnen, die es in
Orientierung am befreienden Handeln Jesu zu respektieren und zu fördern gilt.

3 Freiheit als Maßstab kirchlichen Handelns

Für Bibel und kirchliche Tradition ist Freiheit kein zusätzliches Attribut, das dem Menschen neben anderen
zukommt, sondern wesentliches Kennzeichen seiner Würde, die darin wurzelt, Bild Gottes zu sein und in
personaler Beziehung zu Gott zu stehen.
Daher kann die Beziehung des Menschen zu Gott nicht anders realisiert werden denn in freier Zuwendung und
freier Entscheidung. Kein Mensch kann für den anderen Menschen entscheiden, wie er zu Gott steht und zu
ihm findet und ebenso ist niemand dazu befugt oder auch nur in der Lage, das Leben eines anderen zu
verantworten.

Das hat Konsequenzen für das Selbstverständnis und die Praxis der Kirche. Mit dem Zweiten Vatikanischen
Konzil ist festzuhalten, dass Kirche niemals Selbstzweck sein kann, sondern einen Dienst zu leisten hat, nämlich
“in Christus gleichsam das Sakrament, das heißt Zeichen und Werkzeug für die innigste Vereinigung mit Gott
wie für die Einheit der ganzen Menschheit” zu sein (Lumen Gentium 1 und Gaudium et Spes 43). Diesem
Auftrag der Kirche entsprechend betonen die Konzilsväter die Würde des Menschen als Abbild Gottes und
besonders seine Freiheit als „ein erhabenes Kennzeichen des Bildes Gottes im Menschen“ (GS 17).
Der Dienst gegenüber Gott lässt sich nicht trennen vom Dienst am Menschen, so dass seelsorgerliches Handeln
sich stets daran messen lassen muss, ob und wie es dem Einzelnen hilft, in der Entwicklung und Entfaltung
seiner Persönlichkeit voranzuschreiten und seine Freiheit zum Guten zu nutzen. Macht kann in der Kirche nur
einen Zweck haben: sie einzusetzen für den befreienden Dienst am Menschen.

4 Unfreiheit als Versuchung

Bei der Aufarbeitung der Missbrauchsfälle hat sich gezeigt, dass es paradoxerweise gerade in der Kirche, in der
Menschen Heil suchen, eine unheilvolle Verzahnung von Religion, Macht und Gewalt gibt, die vor ganz
besondere Herausforderungen bei Aufarbeitung und Prävention stellt. Dies hängt zusammen mit einem
Kirchenbild, das eigentlich seit dem Zweiten Vatikanischen Konzil als überholt zu gelten hat, aber eben doch
nicht gänzlich überwunden ist; hier wird die Heiligkeit der Kirche vom äußeren Ansehen der Kirche abhängig
gemacht, das in jedem Fall verteidigt werden muss. Alles andere, letztlich sogar der konkrete Mensch, wird im
Zweifelsfall der Verteidigung dieser Form von Heiligkeit untergeordnet; der Mensch wird hier zum Objekt
gemacht und in seiner Würde missachtet.

Dieses fragwürdige Verständnis von Kirche schafft sich Strukturen, die jede Infragestellung kirchlicher Praxis
verhindern sollen; durch diese Strukturen wurde sexualisierte Gewalt nicht nur ermöglicht, sondern auch
systematisch gedeckt und vertuscht. Vielfach sind solche Strukturen Ausdruck einer Angst vor der mit der
Freiheit verbundenen Eigenverantwortlichkeit und Unsicherheit; diese Angst macht sich sowohl an der Freiheit
der anderen wie an der eigenen Freiheit fest. Um sie zu verdecken, wird Zuflucht zu Autorität, Unterordnung
und Kontrolle genommen. Seelsorgerinnen und Seelsorger, insbesondere die Priester, kann dieser
Mechanismus besonders leicht in eine prekäre Lage bringen: Indem ihnen eine Autorität zugesprochen wird,
die sich in direkterem Verhältnis zu Gott wähnt als es den einfachen Gläubigen zukommt, wird ihnen
gleichzeitig ein Selbstverständnis zugemutet, das über eigentlich unumgehbare Herausforderungen und
Verunsicherungen des menschlichen Daseins erhaben sein soll. Ohne die Auseinandersetzung damit wird
jedoch die Entfaltung einer reifen Persönlichkeit ganz erheblich erschwert oder gar verhindert. Menschen mit
unreifen Persönlichkeitsstrukturen können aber kaum die Freiheit und die Eigenverantwortlichkeit derer
fördern, denen sie begegnen.

Die benannten kirchlichen Strukturen und Menschenbilder sind nicht geeignet, das einzulösen, was das Konzil
jeder denkbaren kirchlichen Praxis vorgibt: „… nur frei kann der Mensch sich zum Guten hinwenden.“ (GS 17)

5 Sexualität braucht Respekt

„Menschliche Sexualität ist das sinnliche und lustvolle Erleben jener Kraft, die einen Menschen dazu drängt,
über sich selbst hinauszuwachsen und in Beziehung mit anderen Menschen zu treten.“²

Als Hochschulseelsorgerinnen und Hochschulseelsorger nehmen wir wahr, dass die Lebensführung vieler junger
Menschen von heute gerade in Fragen von Beziehung und Sexualität von Verantwortungsbewusstsein
gekennzeichnet ist; die Sehnsucht nach Beziehungen, dabei explizit auch nach Treue, ist sehr ausgeprägt.
Auf der Ebene der theologischen Begründung kirchlichen Handelns ist in der Moraltheologie, und ganz
besonders in der Sexualmoral, Weiterentwicklung und Korrektur notwendig. Sexualmoral muss als Beziehungsethik entwickelt werden.³ „Es geht … darum, die ‚Sexualmoral‘ zu definieren und zu gestalten von
den Beziehungen her, und nicht mehr umgekehrt das bereits gefasste moralische Urteil über Sexualität … als
den Rahmen zu verstehen, von dem her Beziehungen als legitim oder illegitim … verstanden werden müssen.“4 Jede moralische Beurteilung muss sich daran messen, ob es ihr um die Förderung echter christlicher Werte wie
personale Liebe und Treue geht.

Hier muss die Rolle der Humanwissenschaften bei der Gestaltung hilfreicher ethischer Normen betont werden.
In deren Kompetenz liegt es zwar nicht, selbst Werte zu begründen, aber sie sind unersetzlich, wenn geeignete
Strategien für die konkrete Umsetzung von Werten gefunden und die Tauglichkeit von hergebrachten Normen
beurteilt werden sollen.

In allem ist die Würde des Gewissens unbedingt zu respektieren. Das 2. Vatikanische Konzil hebt das sittliche
Gewissen, sogar dann, wenn es objektiv irren sollte, in den Rang eines unbedingten Maßstabs für die christliche Lebensgestaltung.5 Eine starre und biologistisch orientierte Naturrechtslehre, die in einer Verbotsmoral
mündet, wird der heutigen Situation nicht mehr gerecht.
Es sollte keinesfalls hingenommen werden, dass Kirche in diesen Fragen ihre Relevanz weiter verliert. Denn der
christliche Glaube bietet wertvolle Impulse für die humane Gestaltung menschlicher Beziehungen. Sexualität
von gelingenden Beziehungen her zu verstehen, eröffnet Räume der Freiheit und des Respekts vor der Würde
des/der Anderen.

6 „Nur frei kann der Mensch sich zum Guten wenden (GS 17)“

Das Handeln der Seelsorgerin / des Seelsorgers steht unter dem Anspruch, den anderen Menschen in seiner
Freiheit zu achten und diese Freiheit durch die Gestaltung seelsorgerlicher Beziehungen zu fördern.
Angelehnt an das Modell der „Mystagogischen Seelsorge“ nach Karl Rahner kommt es darauf an, die Botschaft
des Glaubens nicht als etwas Äußeres an die Menschen heranzutragen – etwas, was jenseits der Erfahrung
menschlicher Existenz läge. Vielmehr soll christliche Verkündigung „beim Menschen, bei seiner Selbsterfahrung, bei seiner Existenz anfangen und, richtig verstanden, auch bei ihm enden …“6 Rahner spricht
von „dem Recht und der Pflicht, die christliche Botschaft so vorzulegen, dass sie … nichts anderes ist als der
auslegende Anruf der Wirklichkeit …“7

Eine seelsorgerliche Beziehung, die zum Geheimnis Gott führen will, achtet deshalb jeden Menschen als
Souverän der Führung eines eigenen Lebens; umgekehrt verbietet sich jegliche Form der Instrumentalisierung
des Menschen zum Verfügungsobjekt anderer, insbesondere zur subtilen Vereinnahmung für verdeckte
Interessen. Das befreiende Handeln Jesu, wie es die Evangelien in seinen Begegnungen immer wieder
herausstreichen, ist hier unverrückbarer Maßstab.

So gilt es, dem anderen die Fähigkeit zur Freiheit zuzutrauen und ihn unterstützend darin zu begleiten, seine
Kompetenz zur eigenen Lebensführung verantwortungsvoll wahrnehmen zu können. Dem Menschen diese
Fähigkeit zuzutrauen und deren konkrete Ausgestaltung anzunehmen, ist eine zentrale und ungeheure
Herausforderung für das seelsorgerliche Selbstverständnis; sie nicht zu respektieren hieße aber, den
Schöpfungs- und Erlösungswillen Gottes nur mit Einschränkungen anzuerkennen.

Mit dem vorliegenden Plädoyer machen wir bayerischen Hochschulseelsorgerinnen und
-seelsorger uns die beschriebene Haltung von Freiheit und Respekt zu eigen. Wir laden dazu ein, in den Hochschulgemeinden und, darüber hinaus, auch in anderen pastoralen Handlungsfeldern zu diskutieren und zu
überprüfen: sind die konkreten Haltungen, Handlungsweisen und Strukturen geeignet, der Freiheit der
Menschen zu dienen und ihnen in Respekt zu begegnen?


1 „Das Schweigen ist sehr komplex.“ Klaus Mertes im Gespräch mit Christoph Heinemann, Deutschlandfunk 23.1.2011
2 So Martin Lintner in: Den Eros entgiften! Plädoyer für eine zukunftsfähige Sexualmoral und Beziehungsethik, mit einem
Vorwort von Bischof Karl Golser, Innsbruck 2011, S. 16
3 Vgl. dazu: Karl-Wilhelm Merks, Von der Sexual- zur Beziehungsethik, in: K. Hilpert, (Hg.): Zukunftshorizonte katholischer
Sexualethik. Bausteine zu einer Antwort auf die Missbrauchssituation, Quaestiones disputatae 241, Freiburg 2011, S. 14 – 35.
4 Ebda., S. 29
5 In der Lehre vom Gewissen liegt der zentrale Anker des christlichen Menschenbildes. Sie ist der theologische Bezugspunkt
für das, was in profaner Redeweise „Personalität“ genannt wird: Weil der Mensch Bild Gottes ist, fällt ihm die Gabe und
die Aufgabe zu, sein Leben selbst zu verantworten; in dieser Rolle kann der Einzelne von keinem anderen vertreten
werden und in der gewissenhaften Annahme seiner Verantwortung vor Gott liegt seine Würde. Deshalb sagt das Zweite
Vatikanische Konzil (GS 16): „…das Gewissen ist der verborgenste Kern und das Heiligtum des Menschen, in dem er allein
ist mit Gott, …“ Der Katechismus der Katholischen Kirche von 1992 macht sich diese Gewissenslehre wortwörtlich zu eigen
und bekräftigt damit das Menschenbild des Konzils (KKK 1776).
6 Karl Rahner, Die theologische Dimension der Frage nach dem Menschen, Schriften zur Theologie XII,
Zürich/Einsiedeln/Köln 1975, 387-406, S. 402.
7 Ebda., S. 403.